Target 2

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Eigentlich sollte das System genau so harmlos sein, wie es klingt. Es sollte dazu dienen, die Zahlungsforderungen zwischen den Notenbanken abzuwickeln, die bei jeder grenzüberschreitenden Überweisung im Euro-Raum entstehen. Solange die Wirtschaft im Gleichgewicht ist und Waren und Geld in alle Richtungen hin und her fließen, gleichen sich die Salden dabei immer wieder aus. Selbst wenn ein Land mal mehr Güter importiert als exportiert, finanziert es diese Lücke in der Regel durch Kapitalzuflüsse aus dem Ausland. Auch dann sind die Target-Salden bei oder nahe null – so wie es bis Anfang 2007 der Fall war.

In einer Finanzkrise können Ungleichgewichte aber zur Katastrophe führen, weil die Geldflüsse zwischen den Banken plötzlich stocken. So geschah es seit 2007:

  1. Die Banken in allen Euro-Staaten mussten ihr Geld zusammenhalten. Sie zogen sich aus vermeintlich unsicheren Ländern zurück. Auslaufende Kredite wurden nicht mehr verlängert.
  2. Hinzu kam die Angst der Reichen: Aus Sorge, ihr Geld könnte bald nichts mehr wert sein, schafften sie es erst aus Griechenland, Irland und Portugal heraus, später auch aus Spanien und Italien. Den Banken dort blieben weniger Spareinlagen, die sie als Kredite weiterreichen konnten.
  3. All das führte dazu, dass in Griechenland und den anderen Krisenländern nicht mehr genügend Geld da war, um all die Importe zu finanzieren. Wollten griechische Banken weiter Kredite vergeben, um den Kauf zum Beispiel deutscher oder holländischer Produkte zu bezahlen, mussten sie es sich bei ihrer Zentralbank leihen.
  4. Die Zentralbank wiederum schöpft das Geld einfach aus dem Nichts – und stellt es dem gesamten Euro-System als Target-Forderung in Rechnung. "Diese Länder ziehen das Geld einfach aus der Druckerpresse", schimpft Sinn.

 

Bei den Sicherheiten, die die Zentralbanken für ihre Kredite an die Banken verlangen, sind sie immer laxer geworden. Gerade die Banken in Krisenländern, die ohnehin am Tropf ihrer Notenbanken hängen, reichen dabei auch noch die schlechtesten Sicherheiten ein. Griechische Finanzinstitute etwa haben vor allem Staatsanleihen ihres Heimatlandes in ihren Geschäftsbüchern. Auf dem freien Markt will solche Papiere niemand haben, doch die griechische Notenbank akzeptiert sie weiterhin als Sicherheit – und gibt im Gegenzug frisches Geld an die Banken aus. "Der private Geldfluss wird durch öffentlichen ersetzt", sagt Sinn.
Gefährlich wird das, wenn die Sicherheiten irgendwann einmal eingesetzt werden müssen, etwa wenn Griechenland aus der Währungsunion austritt und Bankrott anmeldet. Dann sind griechische Anleihen nichts mehr wert – und die Wahrscheinlichkeit, dass die griechische Notenbank ihre Schulden gegenüber dem Euro-System zurückzahlen kann, ist äußerst gering.
Am Anfang hat Sinn viel Kritik für seine Thesen einstecken müssen. In der Fachwelt gab es einen kleinen Aufschrei, als er sie zum ersten Mal ausführlich in der FAZ veröffentlichte.  Er übertreibe und spiele die Risiken künstlich hoch, lautete ein Vorwurf von Kollegen. Auch die Bundesbank selbst tat die auseinanderdriftenden Salden zunächst als mehr oder weniger harmlos ab.
Sinn stand ziemlich alleine da. "Alle dachten: Wenn das nur einer sagt, dann kann es ja nicht stimmen", erinnert sich der Ökonom. Heute ist die Kritik weitgehend verstummt. "Ich habe mich zwei Wochen mit dem Thema beschäftigt", sagt ein deutscher Wirtschaftsprofessor. Dann habe er festgestellt: "Herr Sinn hat Recht. Die Analyse ist brillant." Andere geben eher zähneknirschend zu, dass das Risiko hinter den Target-Salden offenbar doch höher ist als sie anfangs glaubten.

Selbst die Europäische Zentralbank bestätigt Sinns Analyse mittlerweile im Grundsatz.