Ein Verfahren als Beispiel:
Lost in Translation
Es klingt wie ein Scherz, aber es ist keiner. Nicht ein Fünkchen Ironie verfängt sich in der Stimme von Brigitte Koppenhöfer. “Bevor wir mit der Zeugenvernehmung beginnen”, läßt die durch den Mannesmann-Prozeß bekanntgewordene Richterin die erstaunten Zuhörer im Saal wissen, “wollen wir erst einmal eine kleine Vokabelstunde einlegen.” Dann bittet die Vorsitzende der 14. Großen Wirtschaftsstrafkammer am Landgericht Düsseldorf den Gerichtsdiener, den Projektor einzuschalten, und die anwesende Dolmetscherin, die dort aufleuchtenden Begriffe abzuarbeiten. Also zunächst ein Test der Dolmetscherin – der gerichtlich vereidigten, versteht sich. Und schon damit wird alles zur Farce:
Koppenhöfer sagt nicht „Projektor“. Sie sagt „Beamer“.
Die anschließende Vorstellung wird trotzdem unfreiwillig komisch. Als die Übersetzerin sogar „Meeting“ und „CEO“ übersetzt, wird erstmals gegrinst im Raum. Als die Quellenangabe „Wikipedia“ für den Begriff „Cash-Flow“ auftaucht, lachen einige. Lost in Translation.
Es war der vierte Verhandlungstag im Strafprozess gegen den früheren WestLB-Chef Jürgen Sengera, Mitte Januar. Am nächsten Tag geht das Verfahren dann in die nächste Runde. Sengera muß sich seit Jahresbeginn wegen Untreue verantworten, weil er angeblich ohne ausreichende Risikoprüfung einen Milliardenkredit an den britischen Fernsehgeräte-Vermieter Boxclever vergab – der bald darauf pleite ging. Höhe des Schadens laut Anklage für die Bank: 427 Millionen Euro.
Allerhand Geld, allerhand komplizierte Bankgeschäfte, deshalb fallen auch allerhand englische Begriffe in Raum L 111. Und manchmal versteht selbst die Dolmetscherin nur Bahnhof. „Senior term loan?“ „Was das genau heißt“, sagt sie mehrfach mit hilflos kippender Stimme, „würden wir gern von den Bankern erklärt bekommen.“
Dunkel ist die Bedeutung der Fachsprache. Und traurig ist ihre Konsequenz. Der vierte Verhandlungstag des Sengera-Verfahrens ist nicht nur eine Auseinandersetzung über Begriffe. Er ist zugleich ein Exempel für das, was Experten zunehmend Sorge bereitet: Richter und Staatsanwälte stehen Wirtschaftsstrafprozessen immer hilfloser gegenüber. Es mangelt an Personal, an Geld, an Fachwissen und einem modernen Rechtssystem.
Die Folgen sind fatal. Vieles, was die deutsche Strafjustiz einst ausgezeichnet hat, steht auf dem Spiel: eine schlagkräftige Justiz und vor allem nachvollziehbare, gerechte Urteile. Bereits 2006 bemängelte Generalbundesanwältin Monika Harms, was immer offensichtlicher wird – daß Wirtschaftsstraftäter nicht angemessen bestraft werden, “weil für die Aufklärung keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen”.
Ist die deutsche Justiz noch satisfaktionsfähig? Die Statistik sagt Nein. Seit Jahren nimmt die Zahl der Wirtschaftsstraftaten zu – während die Zahl der Richter und Staatsanwälte schrumpft. Und die nächsten großen Wirtschaftsstrafverfahren stehen schon vor der Tür.
- Experten erwarten, daß im Nachgang des aktuellen Steuerskandals um Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel noch einige komplizierte Verfahren auf die Justiz zukommen werden.
- Und da ist auch noch die Hypothekenkrise in den USA, die auch Deutschland Strafprozesse bescheren wird. In Amerika ermittelt bereits das FBI.
Die Politik aber nimmt davon keine Notiz. Christoph Frank, Präsident des Deutschen Richterbunds, verweist auf eine großangelegte Studie der Landesjustizverwaltungen zum Personalbedarf. “Wenn man die Zahlen hochrechnet, ist das Ergebnis, dass 4.000 Stellen für Richter und Staatsanwälte in Deutschland fehlen.”
Was das bedeutet, läßt sich besonders gut an einigen laufenden großen Wirtschaftsprozessen erkennen. Sie dauern.
Hamburg, Mitte Februar 2008.
In Saal 300 des hanseatischen Strafjustizgebäudes wird jeden Montag aufs Neue gefoltert. Jeden Montag treffen sich hier dieselben Leute, seit 148 Tagen. Das Landgericht verhandelt gegen Alexander Falk, den Erben des Stadtplanimperiums, wegen eines angeblich getürkten Firmenverkaufs. Über 14.000 Seiten sollen die Akten mittlerweile umfassen.
"Multipliziert mit neun, geteilt durch drei, hiervon 75%" – seit zwei Stunden doziert Rechtsanwalt Marc Langrock an diesem Tag mit der Attitüde des jungenhaften Strebers. Und allerlei Fachwörter gehen ihm dabei spielend über die Lippen: “Redundanzstrukturen”, “Microbillings”, “Remote- und Clustersysteme”.
Die Schöffen sind derweil müde geworden ob all der Dinge, die sie da nicht verstehen. In Hamburg starren die Protagonisten eines veralteten Rechtssystems in sich hinein oder hinaus aus dem Fenster. Einer der Angeklagten legt Patiencen auf den Computer – und Richter Nikolaus Berger reibt sich verzweifelt über das Gesicht.
Der Vorwurf gegen Falk klingt eigentlich simpel. Gemeinsam mit Mitstreitern soll er den Wert der Internetfirma “Ision” mit Scheinumsätzen geschönt und die Firma dann an den britischen Konkurrenten “Energis” verkauft haben – Schaden für den Konkurrenten laut Staatsanwaltschaft: rund 45 Millionen Euro.
Immer wieder war auch mal von einem baldigen Urteil die Rede. Doch in Hamburg hört man derzeit nur gegenseitige Vorwürfe, wer den Prozeß denn nun mehr verzögert.
Denn es ist eines der Verfahren, in denen Strafrecht und wirtschaftliche Einordnung heftig aufeinanderprallen. Ein Beispiel von vielen: Wie soll heute der exorbitante Preis von rund 760 Millionen Euro bewertet werden – im Rückblick auf die verrückten Zeiten der New Economy, als bloße Ideen bereits Millionen wert waren? Geht es wirklich um Betrug – oder nur um den damals weit verbreiteten Irrsinn?
Sven Thomas, Falks stimmgewaltiger Verteidiger, glaubt natürlich an Letzteres und an eine Justiz, die die Usancen in der Wirtschaft nicht kennt: “Die kapieren nicht, wie’s funktioniert”, sagt Thomas.
Man muß das nicht glauben, vielleicht ist Falk doch der Betrüger, für den ihn die Strafverfolger halten. Aber die Frage ist legitim:
Die deutsche Justiz tut sich zumindest schwer mit dem Heranzüchten von Wirtschaftsexperten. Denn gegenüber den viel Geld zahlenden Anwaltskanzleien steht der Staatsdienst bei gut ausgebildeten Assessoren nicht hoch im Kurs. Noch am ehesten finden Frauen daran Gefallen – weil die Familienplanung im öffentlichen Dienst nicht leidet.
Zwar gibt es in allen Bundesländern spezielle Wirtschaftsstrafkammern und Schwerpunktstaatsanwaltschaften wie die in Bochum, die nun so energisch gegen vermeintliche Steuersünder wie Klaus Zumwinkel vorgeht. Aber die werden nicht immer gleich mit Spezialisten besetzt. “Training on the Job” sei das, sagt ein Richter, der lieber anonym bleibt. “Learning by Doing.” “Hin und wieder bekommen Richter mal Fortbildungen”, sagt auch Strafrechtsprofessor Rönnau. “Aber sonst sind die auf sich allein gestellt.”
In Hamburg und Düsseldorf ist der Gehaltsunterschied leicht zu erkennen. Falks Anwalt Thomas, immer elegant gekleidet, reist in der Regel per Chauffeur zu den Prozessen. Sengeras Verteidiger Eberhard Kempf bringt stets seinen eigenen Protokollanten mit in die Sitzung, der alles Gesagte mitstenographiert – für eine eventuelle Revision. Und Kempfs Co-Verteidiger Christian Richter, ein Mensch gewordener Rübezahl, läßt sich von einer Begleiterin regelmäßig Kaffee nachschenken – im Silberbecher.
Die Justiz dagegen muß sich mit altersschwachen “Beamern” herumplagen. “Wir haben das vorher geprobt”, sagt Richterin Koppenhöfer am vierten Verhandlungstag des Sengera-Prozesses entschuldigend, als das Gerät nicht gleich anspringt.
Ein ungleicher Kampf. Denn im Gegensatz zu Richtern und Staatsanwälten haben Anwälte zugleich viel Zeit. “Prozeßverschleppung” nennt es die Justiz.
Sie hat deshalb damit begonnen, das Problem auf ihre Weise zu lösen. Immer häufiger üben sich Gerichte und Staatsanwaltschaften in “Notwehr” und lassen sich auf Deals ein. Prominente Beispiele gibt es zuhauf. Erst kürzlich hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einem seiner Urteile die Situation resigniert in folgende Worte gefaßt:
- Etwa das Mannesmann-Verfahren um Millionenabfindungen für Manager: Nach knapp drei Jahren, einem Urteil und einer Revision gingen Gericht und Staatsanwaltschaft in der Neuauflage schon nach wenigen Tagen den Weg des geringsten Widerstands. Mit Einverständnis aller wurde das Verfahren flugs gegen Zahlung von Geldbußen eingestellt.
- Oder der VW-Korruptionsprozeß: gleich drei Täter – von Ex-Personalvorstand Peter Hartz bis hin zum Ex-SPD-Abgeordneten und früheren Betriebsrat Günter Lenz – ließen sich auf Deals ein. Wer gestand oder einen Strafbefehl akzeptierte, wurde ohne Tataufklärung im Prozess innerhalb von maximal zwei Tagen abgeurteilt – und erhielt eine milde Strafe.
“Skandalös” lautete die sprachliche Reaktion der Politik auf diese Verfahren – eine politische Reaktion blieb bis heute aus.
Fatal sei das für die Gerechtigkeit, monieren Kritiker. Denn auf Deals und milde Strafen können vor allem Wirtschaftsstraftäter hoffen.
Nach einer Studie von Karlhans Liebl von der Polizeihochschule in Sachsen, der etwa 6.000 Strafverfahren untersuchte, werden einfache Fälle eher abgeurteilt und stärker kriminalisiert. “Wenn jemand um 3.000 oder 10.000 Euro betrogen hat, können Richter aus eigener Erfahrung ermessen, wie schwer das wiegt”, sagt Liebl. “Wenn es aber 4,5 oder 45 Millionen sind, dann sind es nur noch Zahlen auf dem Papier.”
Sollte die Politik nicht eingreifen, droht der Justiz bald die endgültige Kapitulation, fürchten viele Experten. Zumal überlastete Richter und Staatsanwälte auch noch Zusatzkosten für die öffentliche Hand produzieren können. Kommt im Falk-Prozeß, wo der Angeklagte 22 Monate in Untersuchungshaft saß, ein Freispruch heraus oder eine milde Freiheitsstrafe, muß Hamburg den vermeintlichen Täter entschädigen. “Und wir sprechen hier von einem zweistelligen Millionenbereich”, behauptet Falks Anwalt Sven Thomas.
Einiges wäre sicher schon gewonnen, wenn wenigstens das veraltete Schöffensystem abgeschafft würde. Denn Schöffen werden nicht nach ihren Fähigkeiten ausgesucht, sondern ausgelost. Und nur Rentner oder Studenten können es sich erlauben, über Monate Zeit in Gerichtssälen zu verbringen. “Ich halte es für sehr problematisch”, sagt Richterbund-Präsident Frank, “wenn ausgerechnet im Wirtschaftsstrafrecht Fachfremde über den Ausgang des Verfahrens mitentscheiden”.
Für das Sengera-Verfahren in Düsseldorf kommt diese Erkenntnis allerdings zu spät. Einer der Schöffen, ein jüngerer Langhaarträger, lümmelt sich schon am vierten Verhandlungstag gelangweilt auf dem Stuhl. Der könnte hart für ihn werden. Das Falk-Verfahren in Hamburg geht mittlerweile ins vierte Jahr.
Der Staatsanwalt als Papiertiger – auch in Bochum.