Der Mann ist 98 Jahre alt. Er heißt Kurt Luis Hess und stammt aus Erfurt. Er trägt eine kurze weiße Hose, ein modisches blaues Hemd und weiße Socken zu legeren Slippern. Er strahlt eine große Zufriedenheit aus auf seine alten Tage, und es hat den Anschein, als hätte ein gutsituierter Pensionär aus Deutschland für den Lebensabend einen Garten Eden gefunden.
Der Schein trügt. Kurt Luis Hess ist in höchster Not hierhergekommen. Er floh 1933 aus Erfurt, weil er dort zur falschen Zeit als Sohn einer Schuhfabrikantenfamilie jüdischer Abstammung geboren worden war.
"Früh" sei er gegangen, sagt Hess, "rechtzeitig. Obwohl ich nicht geahnt habe, was mit den Juden geschehen würde. Es war jenseits meiner Vorstellungskraft".
Eine sechs Jahre lange Odyssee führte Hess durch halb Europa und schließlich in die Karibik. Er nahm ein Angebot des dominikanischen Diktators Rafael Leónidas Trujillo Molina an, der angeblich aus humanitären Gründen bis zu 100.000 Juden aufnehmen wollte, die vor den Nazis flüchteten. In Wahrheit führte Trujillo anderes im Schilde. Er störte sich am dunklen Teint seiner Untertanen – und hoffte, dass die Juden sich mit ihnen vermischen und deren Haut "aufweißen" würden.
Hess schüttelt den Kopf: "Nein, der war kein Humanist, der uns helfen wollte." Er hält einen Moment inne, sein Gesicht verfinstert sich: "Aber hatten wir eine Wahl? Hitler, der deutsche Rassist, hat uns verfolgt, letztlich wollte er uns umbringen. Trujillo, der dominikanische Rassist, hat unser Leben gerettet. Die rund 700 Juden, die nach Sosúa kamen, waren in die unangenehme Lage geraten, dem Diktator dankbar sein zu müssen."
Hess gehört zu den Juden, die das bittere Glück hatten, ihre Heimat und ihr Hab und Gut zu verlieren, aber nicht ihr Leben. In Sosúa zählte er zu den ersten jüdischen Siedlern, die 1940 damit begannen, im grünen Brachland eine Kolonie aufzubauen. Es sprudelt aus dem alten Mann, der in fließendem, akzentfreiem Deutsch so lebendig erzählen kann, dass man ihn trotz seiner bald hundert Lebensjahre nicht einen Greis nennen mag.
Das Wohnzimmer seiner Villa an der Pedro Clisante, der geschäftigen Hauptstraße des 12.000-Einwohner-Städtchens, ist wie ein Museum seines Lebens. Die Wände sind übersät mit Gemälden und Fotos; Porträts seiner vor sechs Jahren verstorbenen Frau Ana Julia hängen dort, einer dominikanischen Schönheit. Sein Sohn Franklin, 65, ist da zu sehen, ein Berliner Hochschuldozent, daneben dessen jüngerer Bruder Cecil, 57. Er betreibt in Irvine nahe Los Angeles ein Unternehmen für Lasermesstechnik.
Hess kramt Fotoalben hervor und Bildbände über "Villen in Erfurt". Sie enthalten Abbildungen klassizistischer Prachtbauten, die seiner Familie gehörten. Als die Fabrik in den Zeiten der Rezession Anfang der dreißiger Jahre in finanzielle Schwierigkeiten gekommen war, fielen die Immobilien den Banken zu.
Die Jugendjahre in Erfurt haben Hess geprägt. Die Schuhfabrik hatte nahezu 2000 Mitarbeiter, die Familie genoss hohes Ansehen, weil sie gute Löhne zahlte und sogar Wohnungen für die Arbeiter baute.
Kurt Luis Hess verstand sich nicht mit seinem Vater, viel lieber hielt er sich im Haus seines Onkels Alfred auf. Der zählte zu den bedeutendsten deutschen Kunstmäzenen – und am Beispiel seines Onkels sah Kurt Luis Hess die Vorboten des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte schon in den zwanziger Jahren kommen.
Die Avantgarde der deutschen Kunst wie die Expressionisten der "Brücke" traf sich bei Alfred Hess, der sie förderte – aber die Braunen machten dem Mäzen im traditionell nationalistischen Thüringen das Leben schwer. Sie störten sich daran, dass der Schuhfabrikant als Mitglied der Liberalen ein Verfechter der Republik war, sie diffamierten die in ihren Augen "undeutsche" Kunst – und sie verbargen dabei ihre antijüdischen Ressentiments nicht.
Es ist der 6. März 1932, ein Sonntag, als ein Auftritt Adolf Hitlers in Weimar zu einem Schlüsselerlebnis für den jungen Bürger Hess wird. Deutschland liegt am Boden in dieser Zeit. Die Weltwirtschaftskrise hat die Arbeitslosenzahl auf 6,1 Millionen steigen lassen, auch in Thüringen ist die Stimmung schlecht.
An diesem Tag aber lebt Weimar auf. Als Hitler sich auf dem Balkon des Hotels Elephant zeigt, bricht unter seinen rund 8500 Anhängern starker Jubel aus. Er kommt kaum zu Wort. Inmitten der johlenden Masse, die Hitler wie einen Erlöser feiert, steht Hess mit versteinertem Gesicht. Er ist 23 Jahre alt. Er ist aus Erfurt gekommen, um Hitler zu hören. "Ich fand das gespenstisch", erinnert er sich, "ich fragte mich: Wo wird das enden?"
Hess weiß, dass der Hassprediger auf dem Hotelbalkon Juden für die Inkarnation des Bösen hält. "Jüdische Hände schaffen nur Mist und Jauche", hatte Hitler seiner Weimarer Gefolgschaft schon 1925, beim Tag der NSDAP, zugerufen. Hess weiß auch, dass Hitlers Judenhass große Zustimmung in der Bevölkerung findet.
"Ich verstand das nicht", sagt Hess. Er sei nie in einer Synagoge gewesen. Was koscheres Essen ist, habe er nur dem Hörensagen nach gewusst. Als Schüler habe er am christlichen Religionsunterricht teilgenommen, Weihnachten mit seinen Eltern unterm Christbaum gefeiert. Sein Vater und sein Onkel Alfred Hess seien für den Kaiser in den Ersten Weltkrieg gezogen. "Alle in unserer großen Familie haben sich nie als Juden, sondern immer nur als Deutsche gefühlt", erzählt Hess. Es ging vielen so.
Die Welt des jungen Bürgers Hess war in Weimar ins Wanken geraten. Sie zerbrach ein paar Monate später. Kaum war Hitler im Januar 1933 in Berlin zum Reichskanzler ernannt worden, erklärte Nazi-Deutschland den jüdischen Bürgern den Krieg.
Hess hat noch vor Augen, wie SA-Männer am 1. April 1933 vor jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen Wache schoben, um den reichsweiten Boykott auch in Erfurt durchzusetzen. "Kauft nicht bei Juden" hieß es auf Litfaßsäulen, Nazis schmierten die Parole auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte. "Das war kein Land mehr für mich", sagt Hess.
Als Hess Erfurt im Mai 1933 verließ, wollte er "nie wieder nach Deutschland zurückkehren". Die meisten anderen Mitglieder der Großfamilie emigrierten wenig später – wie rund 37.000 deutsche Juden, die Deutschland im Jahr eins der Nazi-Herrschaft verließen. "Aus unserer Familie haben fast alle überlebt", sagt Hess.
Die Fremde fürchtete Hess nicht so sehr wie die Heimat. Er hatte nach dem Abitur am Erfurter Schiller-Gymnasium im schweizerischen Neuchâtel Englisch, Französisch und Spanisch gelernt und danach zwei Jahre in Amerika neue Fertigungstechniken in Schuhfabriken studiert. "Die Sprachen haben mir überall geholfen, mein Überleben zu sichern", sagt Hess. "Ich habe mehrfach alles verloren, aber meine Bildung konnte mir niemand nehmen."
Hess verschlug es zunächst nach Barcelona. Er beteiligte sich an einer Strumpffabrik, geriet aber an dubiose Geschäftspartner und ging bankrott. In seinem dominikanischen Exil zeigt der alte Mann Fotos seiner nächsten Station: In Ibiza-Stadt eröffnete er 1934 die "Bar Puerto", sie wurde ein florierender Künstlertreff.
Wieder waren es die Zeitläufte, die ihn vertrieben. Im Juli 1936 brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Ausländer wurden mit Schiffen evakuiert, Hess kam nach Neapel – völlig mittellos. Ein paar Monate verbrachte er dann bei Freunden in Litauen, im Frühjahr 1937 versuchte er sein Glück in Paris, wo er ohne Schwierigkeiten eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt.
Am 9. März 1939 las Kurt Luis Hess in der "Pariser Tageszeitung", einem Emigrantenblatt, dass er nun kein Deutscher mehr sei. Die "Ausbürgerungsliste 94" aus dem "Deutschen Reichsanzeiger" wurde dort nachgedruckt, unter der laufenden Nummer 53 stand "Hess, Kurt, geb. 3.10.08, Erfurt". Die Nachricht schmerzte ihn: "Ich wollte mit diesem Deutschland nichts mehr zu tun haben, trotzdem hatte ich das Gefühl, hinausgetreten worden zu sein."
Die Ruhe in Paris währte nicht lange. Im Frühjahr 1939 verlängerten die französischen Behörden ihm und anderen Flüchtlingen die Aufenthaltsgenehmigungen nicht mehr – ohne Begründung.
"Ich war verzweifelt", sagt Hess. Es schien, als würde es zum ersten Mal keinen Ausweg mehr geben für den jungen Deutschen. Hess ging durch die Straßen von Paris und sprach bei etlichen Botschaften vor, um ein Visum zu bekommen; vergebens. Zufällig passierte er die Auslandsvertretung der Dominikanischen Republik. Als er hineinging, wusste er nicht, dass Diktator Trujillo 1938 anlässlich einer internationalen Flüchtlingskonferenz im französischen Evian hatte erklären lassen, 100.000 Juden aufnehmen zu wollen. Unter den 32 teilnehmenden Staaten war nur die Dominikanische Republik willens, einer großen Zahl Verfolgter eine Heimstatt zu bieten.
Kurt Luis Hess erhielt ein Visum. "Ich wusste nichts über dieses Land. Aber es war meine einzige Chance", sagt er. Anfang Juni 1939 stieg er in Bordeaux an Bord der "Bretagne", am 25. Juni 1939 ging er in Puerto Plata an Land.
"Puerto Plata war ein Kulturschock für mich", sagt Hess, "ich war mir sicher, dort nicht leben zu können." Die Kirche trug ein Wellblechdach, "das kannte ich aus Paris nur von Pissoirs". Als Hess aber erfuhr, dass Deutschland am 1. September 1939 Polen überfallen hatte, "war ich einfach nur froh, hier zu sein". Sein Startkapital betrug 50 Dollar, viel Geld damals. Für sieben Cent gab es ein komplettes Mahl mit Reis, Bohnen, Salat und Fleisch, für ein Zimmer zahlte er fünf Dollar Monatsmiete.
Hess unterrichtete jüdische Einwanderer in Spanisch und brachte Einheimischen Englisch bei. Und als jüdische Experten aus New York kamen, um 1939 die Dominican Republic Settlement Association (Dorsa), eine Siedlungsgesellschaft, zu gründen, übersetzte Hess für das spektakuläre Tagessalär von zehn Dollar den Vertrag zwischen der Dorsa und der dominikanischen Regierung.
In Sosúa an der Nordküste sollten sich die Juden ansiedeln, die Dorsa zahlte Diktator Trujillo 100.000 Dollar für ein 8000 Hektar großes Gelände. Das Örtchen hat idyllische Buchten und ist heute Urlaubsziel deutscher Pauschaltouristen. Die Siedler aber hatten Mühe, sich das Land zunutze zu machen – es dauerte Jahre, bis sie ihre Flucht aus Deutschland als Vertreibung ins Paradies empfinden konnten. Nur 500 Hektar taugten für die Landwirtschaft. Der große Rest bestand aus felsigem Ödland.
Im Juni 1940 zog Hess nach Sosúa, wo schon ein paar Dutzend jüdische Emigranten hausten, und arbeitete als Kontaktmann der Dorsa für die Siedler. Der Anfang war auch für ihn schwierig: Statt der großbürgerlichen Villen in Familienbesitz gab es Baracken, statt des Thüringer Waldes Brachland und statt des Erfurter Doms und der Wartburg nicht einmal Überreste einer entwickelten Kultur.
Bis Ende 1940 trafen 200 Juden ein, Mitte 1942 war die Zahl auf 264 Männer, 109 Frauen und 40 Kinder gestiegen. Die Dorsa hatte ihnen das Geld für die Schiffspassage geliehen. Die meisten kamen aus Deutschland und Österreich, andere aus Polen, der Schweiz und der Tschechoslowakei. Mehr als 700 wurden es nicht.
Manche kamen wie Hess über Frankreich, viele über Anlaufstationen für jüdische Flüchtlinge in Lissabon oder Shanghai, in denen sich Trujillos Angebot herumgesprochen hatte. In Gruppen erledigten sie Pionierarbeit: Sie rodeten Bäume und Büsche, und sie bauten Straßen, Brücken und Häuser. Innerhalb von drei Jahren wuchs eine Stadt mit Bäckerei, Metzgerei, Friseursalon und Hospital, mit Apotheke, Kindergarten, achtklassiger Schule und Theatersaal. "Das Niveau der Aufführungen und Konzerte war erstaunlich", erinnert sich Hess, "etliche Siedler hatten vor ihrer Flucht als Künstler gearbeitet."
Die Juden gaben eine eigene Zeitung mit lokalen und internationalen Nachrichten in deutscher und spanischer Sprache heraus, in "The Sosúa Bulletin" wurden aber auch deutsche Gedichte gedruckt. Abends traf man sich in der Kneipe "Oasis" zum Bier und zum Skat, am Wochenende gab es dort Bohnenkaffee und Schwarzwälder Kirschtorte. Wer tanzen wollte, ging samstags ins Café Stockmann.
Die Exilanten versuchten sich als Bauern. Viele aber waren Ärzte, Kaufleute oder Elektriker, nicht einmal jeder Siebte stammte aus der Landwirtschaft. Spät erkannten die Siedler, dass der Boden nicht für den Anbau von Gemüse und Getreide taugte – und die Menschen nicht für das jüdische Kibbuz-Prinzip geeignet waren, auf das die Dorsa sie in den ersten Jahren verpflichtet hatte.
"Wir lebten nicht nach den Idealen, die die Kibbuze in Israel später erfolgreich werden ließen. Es gab viel Streit, weil jeder nur an seinen Vorteil dachte und vor allem Geld machen wollte", sagt Hess. Die Dorsa brach das Experiment ab und gab Hilfe zur Selbsthilfe. Sie teilte den Siedlern pro Familie zwei Hektar Land zu und, auf Kredit, zehn Milchkühe, einen Bullen sowie einen Esel. Pro Kind gab es zwei Kühe mehr.
Die Siedler gründeten Firmen, die Schinken, Würste, Speck, Butter und Käse aus Sosúa landesweit vertrieben, und sie schafften Arbeitsplätze für Dominikaner, die als Melker und Erntehelfer angelernt wurden. Das Unternehmen "Productos Sosúa" gibt es, inzwischen mit mexikanischer Beteiligung, bis heute.
Hess baute die Schule "Cristobal Colón" mit auf und wurde später ihr Schulleiter, seit 2001 trägt die Privatschule seinen Namen. Als Nebenerwerbslandwirt brachte er es auf 80 Kühe. Die meisten Siedler aber, so Hess, seien in Sosúa "nicht sehr glücklich" gewesen. Viele waren Großstadtmenschen aus Hamburg, Berlin, München und Wien, "sie litten darunter, in einer kulturellen Öde zu leben – ohne großes Theater, ohne Oper, Kabarett, Bibliotheken und Straßencafés". Viele verließen Sosúa nach Kriegsende. Sie reisten in ihr Heimatland oder fanden Unterkunft bei Verwandten, die eine Bleibe in den USA gefunden hatten. Nur ein gutes Dutzend Siedler oder deren Nachfahren leben noch in Sosúa.
Dort herrschte von Beginn an ein erheblicher Männerüberschuss unter den Siedlern, aber Hess litt darunter nicht. Er lernte beim Merengue-Tanz in Puerto Plata Ana Julia kennen, eine schöne, schlanke Frau mit glänzendem schwarzem Haar und jadegrünen Augen. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagt Hess. An den Wochenenden sattelte er frühmorgens in Sosúa sein Pferd auf und scheuchte es durch die Zuckerrohrplantagen nach Puerto Plata, zweieinhalb Stunden für rund 25 Kilometer.
Einflussreichen Siedlern gefiel das nicht. "Es gab Leute unter uns, die offenbar vergessen hatten, was den Juden in Deutschland angetan worden war. Sie hatten ein geradezu koloniales Verhältnis zu den Einheimischen", sagt Hess. Sein Sohn Franklin spricht von einer "sanften Apartheid", die das Denken mancher Siedler prägte.
Hess brach ein Tabu, als er im März des Jahres 1941 als erster Siedler eine Einheimische heiratete. "Sie war das Glück meines Lebens", sagt er. Sein Sohn Franklin wurde im Oktober 1941 geboren, dessen Bruder Cecil kam 1949 zur Welt. Während Kurt Luis Hess fern der Heimat eine Familie gründete, bereiteten die Nationalsozialisten die Ausrottung der Juden vor. "Wäre ich in Paris geblieben, hätten sie mich wahrscheinlich, wie so viele, irgendwann in einem dieser Viehwaggons aus Frankreich in ein KZ gebracht."
Lange Zeit besaß Hess das einzige Radio in Sosúa, oft kamen Siedler zu Besuch, um Nachrichten zu hören. So erfuhr der Erfurter Flüchtling im Mai 1945, dass Deutschland kapituliert hatte. "Die Nazis waren meine Todfeinde, ich verspürte nichts anderes als große Freude", sagt er.
Der dominikanische Diktator Trujillo, der 1930 mit Hilfe der USA an die Macht gekommen war und sein Land drangsalierte, bis er 1961 Opfer eines Attentats wurde, ließ die Siedler in Ruhe. Dass er im Oktober 1937 nahezu 22.000 zumeist aus dem Nachbarland Haiti stammende Menschen dunkler Hautfarbe hatte abschlachten lassen, wussten die jüdischen Einwanderer allenfalls vom Hörensagen. Erst nach seinem Tod wurde bekannt, dass er Folterzentren unterhalten hatte, Jagdhunde darauf hatte dressieren lassen, die Genitalien männlicher Strafgefangener abzubeißen, und dass missliebige Untertanen Haifischen zum Fraß vorgeworfen worden waren.
Gerüchte, dass der Diktator bei seinen Überlandfahrten schöne Frauen aus Ehen und Familien riss, um sie zu vergewaltigen, waren bis Sosúa gedrungen, "aber darüber sprach man nicht", sagt Franklin Hess. Als der ältere Hess-Sohn allerdings das Gymnasium in Puerto Plata besuchte und sich mit Kommilitonen der Trujillo-Opposition anfreundete, wurde die Lage brenzlig.
"Jeder Gesprächspartner konnte ein Trujillo-Spitzel sein", sagt Franklin Hess. Sein Vater erinnert sich an die Angst der Eltern um ihren Sohn: "Wir sorgten uns sehr. Wir schickten ihn zum Ingenieurstudium nach Madrid." Franklin Hess zog 1961 nach Deutschland weiter, heute ist er Dozent in Berlin.
Über das Fernsehen der Deutschen Welle, über Zeitungen und durch Berichte seines Sohnes Franklin verfolgte Kurt Luis Hess mit, wie sich die Demokratie in der Bundesrepublik entwickelte. Ihm entging nicht, dass es immer mal wieder Hakenkreuzschmierereien gibt, dass es rechtsextremistische Parteien wie die NPD in die Parlamente schaffen, und ihn fröstelt, wenn er hört, dass Synagogen in Deutschland unter Polizeischutz gestellt werden müssen.
Es ist Mittagszeit, Schlag zwölf Uhr. Pünktlich wie immer setzt sich der alte Herr vor seiner Villa in seinen Korbstuhl. Er schlürft einen Brandy mit Soda, den ersten des Tages, und berichtet mit einem schelmischen Grinsen von seinem "Beitrag zur Wissenschaft": Er sei Jude und habe mit einer dunkelhäutigen Dominikanerin den promovierten Dozenten Franklin und den Diplomingenieur Cecil gezeugt. Hess macht eine rhetorische Pause und grinst noch breiter: "Ich habe Hitlers Rassentheorie widerlegt."
Brandy zwei und drei nimmt Hess ein paar Häuser weiter ein, in der "Bar Britannia": Punkt 17 Uhr sitzt er da. Tag für Tag. Man könnte die Uhr nach ihm stellen. Mit Briten plaudert er dort auf Englisch, mit Einheimischen auf Spanisch, mit Franzosen auf Französisch. "Alles in allem hatte ich großes Glück", sagt Hess. "Ich hätte auch in Auschwitz enden können."