Der Sündenfall im Umgang mit den Euro-Regeln fand nicht in Griechenland statt.
Es waren vielmehr die Kernstaaten Deutschland und Frankreich, die 2003 dafür verantwortlich waren. Die beiden Nachbarn missachteten damals Geist und Buchstaben des Maastricht-Vertrags, indem sie sich selbstherrlich über die Defizitgrenze hinwegsetzten und eine Sonderbehandlung erzwangen. Die Signalwirkung dieses Regelverstosses, der nie sanktioniert wurde, war fatal: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt liess sich in der Folge kaum noch durchsetzen, auch nicht vom vermeintlichen Musterschüler Deutschland. Es setzte sich die Überzeugung durch, dass der Pakt nicht in Stein gemeisselt, sondern flexibel verhandelbar ist.
Dem deutsch-französischen Dammbruch folgten in der Finanzkrise weitere Regelverletzungen:
- Zuerst wurde die Klausel, wonach die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht für Verbindlichkeiten anderer Mitglieder haften (Nichtbeistandsklausel), beim Hilfsprogramm für Griechenland unkompliziert umgangen.
- Danach weichte man auch jene Bestimmung auf, die besagt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) keine Staatsdefizite finanzieren darf.
- So zeigt sich die EZB nicht nur bereit, Schuldpapiere von Krisenstaaten notfalls in unbegrenztem Umfang aufzukaufen. Auch mit den Notkrediten für das griechische Banksystem, die teilweise zum Kauf von Staatsanleihen verwendet werden, wandert sie auf heiklem Terrain, da solche Kredite nur als Übergangshilfe für solvente Institute erlaubt sind, was in Griechenland kaum mehr der Fall war.
- Längst sind die Euro-Länder zu Kreditgebern der letzten Instanz geworden;
- längst ist die EZB ein Reparaturbetrieb zur fiskalischen Entlastung der Mitglieder.
An eloquenten Ausreden für die Regelverstösse fehlt es nicht:
- Nun gelte es grösseren Schaden abzuwenden.
- Prinzipienreiterei sei fehl am Platz
- Der Vergleich mit der Feuerwehr musster herhalten, demgemäss man vor dem brennenden Haus keine Grundsatzdebatte führen dürfe, sondern rasch und entschlossen handeln müsse.
Wer sich mit diesem opportunistischen Geschwafel nicht anfreunden kann und etwas altmodisch daran erinnert, dass in einer rechtsstaatlichen Union die Regeln zu befolgen, die Verträge einzuhalten und die Schulden zurückzuzahlen sind, da immerhin die Glaubwürdigkeit des Euro auf dem Spiel steht, sieht sich als Dogmatiker übel beschimpft.
Der Euro-Raum ist zur Union ohne durchsetzbare Regeln verkommen, und dies, obschon ständig neue, noch komplexere Normen verabschiedet werden. Die Malaise zeigt sich beim Stabilitätspakt, der Leitplanken für die Finanzpolitik der Mitglieder festlegt. Der Pakt wurde ab 2011 unter dem Eindruck der Schuldenkrise zwar verschärft. Doch schon beim ersten Härtetest im März 2015 verkam er zu Makulatur: Es ging um Frankreich, wo die Defizitgrenze seit 2003 nur in zwei Jahren eingehalten wurde. Trickreich betonte die EU die Notwendigkeit einer flexiblen Handhabe des Pakts und gewährte Paris sanktionslos weitere Jahre zur Besserung. Die Nachsicht hat ihren Grund: So ist Brüssel zur Durchsetzung der Norm auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten angewiesen. Doch in einer Union, in der nur zwei Länder (Estland und Luxemburg) den Pakt noch nie verletzt haben, der Regelverstoss also die Regel ist, hackt keine Krähe der anderen ein Auge aus.
Politiker brauchen Zähmung. Sie sind in institutionelle Fesseln zu legen. Tut man es nicht, ufern die Ausgaben aus und setzen sich kurzfristige Partikularinteressen gegenüber dem langfristigen Gemeinwohl durch.
Weiter im Euro investiert bleiben? Mit dem Kopf gegen eine heisse Brühwurst gelaufen?