Die Radikalisierung von Arabern

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Wir denken, um das richtig verstehen zu können, was jetzt auf Europa zurollt, muss man die Geschichte verstehen, die Vorgeschichte, die Schuld, die Grossbritannien, Frankreich und die USA an diesem Desaster gemeinsam tragen.

In letzter Konsequenz sind die unschuldig gestorbenen Menschen in Paris am Freitag, dem 13. November 2015, Opfer einer unverantwortlichen Machtpolitik der oben genannten Staaten, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahm.

Natürlich sollen damit nicht die Gräuel an den unschuldigen Menschen von heute verharmlost werden. Aber eine andere Politik hätte es nicht zu dieser Entwicklungt kommen lassen.

Die Folgen des 1. Weltkrieges schlagen auf Europa zurück

Der 2. Weltkrieg war eine unmittelbare Folge des 1. Weltkrieges, es gibt Historiker die die Zeit zwischen diesen beiden Weltkriegen nur als Pause in dem einen einzigem grossen Weltkrieg sehen. Zwischen dem Ende des 1. Weltkrieges und dem Beginn des 2. Weltkrieges lagen nur 21 Jahre. Aus heutiger Sicht wäre das eine Zeitspanne zurück ins Jahr 1994. Das ist ncht viel. 1994 war Deutschland längst wiedervereinigt. Michael Schumacher wurde erstmals Formel 1 Weltmeister. Bei der Fussball-WM in den USA verlor Deutschland seinen vier Jahre zuvor in Italien gewonnenen Weltmeistertitel. War das alles nicht erst vorgestern?

Was aber nun, wenn die Ereignisse, die uns seit Freitag, dem 13. November 2015 bewegen, auch nichts weiter wären als die Folgen des 1. Weltkrieges?

Im 19. Jahrhundert hatten sich die europäischen Großmächte bemüht, das bröckelnde Gebäude der osmanischen Herrschaft zu stabilisieren. Sein Einsturz, so ihre damalige Befürchtung, würde Krieg bedeuten: Grossbritannien, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien, Russland und womöglich noch weitere Staaten würden sich um die wertvollen Überreste des osmanischen Reichs streiten, um dessen Rohstoffe wie um dessen strategische Position. Lord Salisbury, Königin Viktorias Premierminister, orakelte, solch ein Krieg könnte ein Ausmaß von Chaos und Zusammenbruch heraufbeschwören, wie es der Kontinent seit dem Fall des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert nicht mehr erlebt hätte.

Während des 1. Weltkrieges im Jahr 2015 kamen die Gegner Deutschlands überein,

  1. das Osmanische Reich nach gewonnenem Krieg nicht zu erhalten, sondern zu zerstückeln;
  2. das Reich nicht seinen ungefähr 25 Millionen Einwohnern und zwei Dutzend Völkern anzuvertrauen, sondern unter den siegreichen europäischen Mächten aufzuteilen.
  3. Ferner beschloss man, dass es bei der Verteilung der Reste des Osmanischen Reiches nicht im Geringsten auf die Interessen und das Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung ankomme.

Das wurde zum Grundmuster alliierter Pläne für den Nahen und Mittleren Osten. Nicht zuletzt diese Umstände des Abkommens sind es, denen sich Türken und Araber später hartnäckig widersetzten.

Grossbritannien umwarb in der Folgezeit die Araber in der osmanischen Armee. Man werde, ließen die Briten durchblicken, nach dem Krieg die Unabhängigkeit der Araber unterstützen. Solche Andeutungen machten sie im Hussein-McMahon-Briefwechsel von 1915 und 1916, in der Hogarth-Botschaft von 1918, in der Erklärung der Sieben von 1918 und der britisch-französischen Erklärung aus demselben Jahr. Allen diesen Dokumenten gemeinsam war der verlogene Versuch der Briten, für die Zeit nach dem Krieg weitreichende Unterstützung für den arabischen Nationalismus in Aussicht zu stellen. Großbritannien gab vor, solch eine Ordnung im Rahmen eines unabhängigen Staates oder auch mehrerer Staaten fördern zu wollen. Zugleich aber weigerten sich die Briten, irgendwelche Verpflichtungen einzugehen, die später als bindend gelten konnten.

Tatsächlich waren die einzigen wirklich bindenden Abkommen der Alliierten während des Krieges über den Mittleren Osten jene Nahost-Vereinbarungen, die sie untereinander getroffen hatten. Die bekannteste ist das

Sykes-Picot-Sasonow-Abkommen von 1916,

in dem Großbritannien, Frankreich und Russland diejenigen Gebiete des Nahen und Mittleren Ostens festgelegt hatten, über die sie nach dem Krieg direkte oder indirekte Herrschaft ausüben wollten. Dieses Abkommen wurde in den Jahren nach 1916 noch verändert. Russland kapitulierte gegenüber Deutschland nach der bolschewistischen Oktoberrevolution und gehörte nicht mehr zu den alliierten Kriegsgewinnern. Gleichwohl entsprach die politische Nachkriegsstruktur des Mittleren Ostens in groben Zügen den Vorgaben dieses Abkommens:

  • Frankreich erhielt Syrien unter Einschluss des heutigen Libanon.
  • Grossbritannien erhielt Palästina, also die Gebiete des heutigen Israels, Jordaniens, des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens sowie den Irak.

„Sykes-Picot“ ist zur Kurzformel für die europäische Eroberung des Mittleren Ostens nach dem Ersten Weltkrieg geworden – eine Formel, die noch heute in arabischen Ländern als Synonym für koloniale Willkür gilt.

Der antiarabische Geschichtsverlauf senkt bis heute die Hemmschwelle, Menschen aus Europa Gewalt anzutun.

Am Krieg gegen das Osmanische Reich hatten sich die Vereinigten Staaten nie beteiligt. Deshalb besaßen die USA keine vollwertige Stimme bei der Formulierung der Friedensbedingungen für den Mittleren Osten.

Auf der Friedenskonferenz kam das geschlagene Osmanische Reich erst ganz zum Schluss an die Reihe. Weil sich ein Teilnehmerland nach dem anderen aus dem Friedensprozess zurückzog, schrumpfte die Zahl der beteiligten Alliierten.

Es blieben nur noch Großbritannien und Frankreich übrig.

Ganze anderthalb Jahre nach dem Waffenstillstand von 1918 einigten sich die beiden Siegermächte auf die Friedensbedingungen, die sie dem Osmanischen Reich aufzwingen wollten. Zwischenzeitlich aber hatte die Welt sich verändert.

Der gesamte arabischsprachige Mittlere Osten stand unter der Besatzung der Alliierten, doch überall herrschten Aufruhr und Unordnung. In Ägypten, Afghanistan, Arabien und Syrien, in Palästina, im Irak und anderswo sahen sich die Alliierten mit bewaffnetem Widerstand gegen ihre Friedenspläne konfrontiert. Deshalb konnte vor allem die britische Regierung nicht mehr aus einer Position der Stärke ihren Willen durchsetzen wie noch 1918.

Großbritannien stand in den frühen zwanziger Jahren am Rande des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Als der moderne Mittlere Osten seine Form annahm, war Großbritannien schon nicht mehr in der Lage, seine Vorstellungen vollständig realisieren zu können.

  • In der Türkei widersetzte sich General Mustafa Kemal, bekannt als Atatürk, den Wünschen Londons und führte den türkischsprachigen Teil der osmanischen Armee zum Sieg gegen die Westalliierten. Aus dem Leichnam des Osmanischen Reiches schnitt er die neue türkische Republik heraus.
  • Derweil vereinigte Ibn Saud die arabische Halbinsel zum Familienkönigreich Saudi-Arabien – ebenfalls gegen den Willen der Briten.

Dennoch waren Großbritannien und in geringerem Maße Frankreich die prägenden Mächte der Region. Mit der Beseitigung des Osmanischen Reiches radierten sie die Landkarte des alten Mittleren Ostens aus und entwarfen eine neue:

  • Der Irak, Jordanien und Israel sind britische Kreaturen,
  • Syrien und der Libanon sind französische.

Die Folgen waren verheerend. Seit 1919 herrschen im Mittleren Osten Wirrwarr und Blutvergießen bis auf den heutigen Tag. Und Grossbritannien und Frankreich trifft Verantwortung.

Die neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten entbehrte nach dem Ersten Weltkrieg von vornherein jeder Legitimität. Grenzen und Staaten wurden nicht von den betroffenen Menschen geschaffen, nicht mit deren Zustimmung, nicht in deren Interesse. Vielmehr gaben bei der damaligen Friedenslösung europäische Sonderinteressen den Ausschlag: Großbritannien und Frankreich bestimmten das Schicksal des Mittleren Ostens. Genau deswegen verfluchen arabische Demokraten das Sykes-Picot-Abkommen noch heute.

Zu allem Überfluss kam noch ein dritter Störer dazu: Die Vereinigten Staaten von Amerika.

Diese nutzten die Suez Krise des Jahres 1956. Briten und Franzosen waren dem militärischen Sieg gegen Ägyptens Nasser nahe, doch hatten sie nicht mit dem Widerstand Eisenhowers gerechnet. Die USA legten dem UN-Sicherheitsrat eine Entschließung vor, die die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangte. In den folgenden Tagen geriet die britische Währung an der New Yorker Börse in gefährliche Kursschwankungen, und Washington erhöhte den Druck auf den britischen Premierminister Eden. Dieser hatte ignoriert, dass Großbritannien als Folge des Zweiten Weltkriegs von den USA finanziell abhängig war. Das sich abzeichnende Fiasko ruinierte Edens Ruf, sodass er Ende 1956 von Harold Macmillan zum Rücktritt gedrängt wurde. Schließlich mussten sich Frankreich, Großbritannien und Israel dem Druck durch die USA, die UdSSR und dem der UNO beugen. Am 6. November 1956 wurde das Feuer eingestellt. Am 3. Dezember erklärten sich Grossbritannien und Frankreich bereit, ihre Truppen vom Kriegsschauplatz abzuziehen, die in der Folge von „Blauhelmen“ der UNO ersetzt wurden.

Die Konsequenzen waren weitreichend.

Die USA und die Sowjetunion nahmen im Nahen Osten den Platz der ehemaligen Kolonialmächte ein.

  • Eisenhower sagte jenen Ländern finanzielle und materielle Unterstützung zu, die sich gegen das sozialistische Gesellschaftsmodell entschieden.
  • Moskau unterzeichnete ein Abkommen mit Nasser, in dem es finanzielle Unterstützung für den Bau des Assuanstaudamms zusagte. Mit dieser Übereinkunft avancierte Ägypten für mehr als 20 Jahre zum sowjetischen Hauptverbündeten in der arabischen Welt.

 

Für Großbritannien und Frankreich endete das militärische Engagement am Suezkanal mit einer diplomatischen Demütigung. Beiden Ländern war schmerzhaft vor Augen geführt worden, dass sie keine Weltmächte mehr waren.

Großbritannien stellte 1957 seine Atomstreitkraft unter amerikanische Kontrolle.

Nachdem bereits Indochina und Algerien den Franzosen den wachsenden Widerstand der Staaten der „Dritten Welt“ gegen die Kolonialmächte demonstriert hatten, verdeutlichte der Ausgang der Militäraktion am Suezkanal, dass sich Frankreichs Rolle als Kolonialmacht ihrem Ende näherte.

Die Suezkrise beendete in diesem Sinne das 19. Jahrhundert.

Der neue Herrscher in der Region wurden die USA. Die USA sind für das aktuelle Desaster verantwortlich und stehen in unrühmlicher Tradition von Grossbritannien und Frankreich.

Geleitet wurde die Politik der USA durch ihren Öldurst. Es ging allein um ihr Big Business. Hinzu trat, dass nach der Niederlage der USA in Vietnam das Land eigentlich bereits pleite war und die Goldbindung des Dollar unter Nixon aufgeben musste. Die Deckung durch Gold für ihren Dollar ersetzten die USA durch das arabische Öl. Als Gegenleistung sicherten sie dem Unrechtssystem Saudi-Arabiens ihren Schutz zu.

Vor allem die beiden Kriege der USA im Irak haben für verheerende Bedingungen in der arabischen Welt gesorgt. Der erste Irakkrieg wurde noch durch die Annexion Kuwaits und mit UN Mandat legitimiert.
Durch nichts legitimiert waren die Invasionen in Afghanistan und im Irak nach 9/11.

Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die der von den USA initiierte „Kampf gegen den Terrorismus“ (unter Einschluss von Afghanistan bis Syrien) mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen. Saddam Hussein war ein Diktator, aber am Anschlag auf das World Trade Center war er nachweislich nicht beteiligt.

„Diejenigen, die Saddam 2003 beseitigt haben, tragen auch Verantwortung für die Situation im Jahr 2015“,

sagt mittlerweile selbst Tony Blair, einst der willige Krieger an der Seite der USA.

Der Wissenschaftler Samuel Huntington hatte ihm und den anderen westlichen Führern schon vor 9/11 gesagt, dass es niemals gelingen werde, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben. Amerikaner und Briten versuchten genau das, als sie mit dem Schlachtruf vom „Regime-Change“ in Bagdad einfielen. Sie kämpften für westliche Werte, indem sie diese diskreditierten. Sie riefen „Freiheit“ und schufen eine Welt in Unordnung.

Vor allem nach dem Abzug der US Truppen 2009 war das Land in einem Mix aus einer brutaler Diktatur Nuri al-Malikis und massiven Gewaltexzessen seiner Gegner im Chaos versunken.

In dem Land gibt es heute so viele Terrorgruppen wie nie zuvor und im benachbarten Syrien tobt seit Jahren ein mörderischer Krieg, an dem Terroristen aus aller Welt beteiligt sind.

Der Kampf ist nun in Europa angekommen. Dort, wo alles mit dem 1. Weltkrieg seinen Anfang nahm.

Wo ist die Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart. Gibt es diese überhaupt?