Prof. Hendrik Streeck, Facharzt für Virologie und Infektionsepidemiologie
“In Deutschland sterben jeden Tag rund 2500 Menschen, bei bisher zwölf Toten gibt es in den vergangenen knapp drei Wochen eine Verbindung zu Sars-2. Natürlich werden noch Menschen sterben, aber ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte durchaus sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.”
Im Rahmen eines Interviews in der FAZ vom 16. März machte Prof. Streeck folgende Angaben:
Ich bin Facharzt für Virologie und Infektionsepidemiologie und kenne mich dank meiner Ausbildung darum auch mit Coronaviren aus. Seit ich in Bonn bin, hat sich mein Gebiet auch sehr erweitert, was etwa die Diagnostik angeht. Und ich habe mich in meinem Forschungsbereich inzwischen auch auf andere Viren spezialisiert. Das Institut für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn war unter Christian Drosten, dem ich, als er an die Charité in Berlin gewechselt ist, im Herbst 2019 nachgefolgt bin, das Referenzlabor für Coronaviren. Da nicht alle Mitarbeiter mit nach Berlin gegangen sind, ist hier viel Expertise vorhanden. Alle meine Mitarbeiter arbeiten derzeit an Sars-CoV-2, in der Hoffnung, zur Erforschung etwas beitragen zu können.
Wir haben versucht, ganz einfache Fragen zu beantworten. Ich bin wahrscheinlich der Virologe, der die meisten Patienten hier in Deutschland gesehen hat. Wir sind im von Covid-19 besonders betroffenen Kreis Heinsberg von Haus zu Haus und zu jedem Infizierten gegangen und haben die Menschen befragt. Wir haben die Symptome erfasst und dadurch auch neue entdeckt, haben Luftproben genommen, Abstriche von Türklinken, Handys und Fernbedienungen, wir haben sogar Toilettenwasserproben eingesammelt.
Fast alle Infizierten, die wir befragt haben, und das gilt für gut zwei Drittel, beschrieben einen mehrtägigen Geruchs- und Geschmacksverlust. Das geht so weit, dass eine Mutter den Geruch einer vollen Windel ihres Kindes nicht wahrnehmen konnte. Andere konnten ihr Shampoo nicht mehr riechen, und Essen fing an, fade zu schmecken. Wann diese Symptome auftreten, können wir noch nicht genau sagen, wir glauben aber, etwas später in der Infektion.
Der typische Covid-19-Patient zeigt nur milde Symptome. Zu dem Ergebnis kommt auch eine chinesische Studie aus der Metropole Shenzhen, die herausgefunden hat, dass 91 Prozent der Infizierten nur milde bis moderate Symptome zeigen, mit einem trockenen Reizhusten, dazu eventuell Fieber. Bei uns kam noch der Geruchs- und Geschmacksverlust hinzu. In 30 Prozent der Fälle trat bei unseren Infizierten auch Durchfall auf, das ist häufiger, als bisher angenommen wurde.
Der neue Erreger ist gar nicht so gefährlich, er ist sogar weniger gefährlich als Sars-1. Das Besondere ist, dass Sars-CoV-2 im oberen Rachenbereich repliziert und damit sehr viel infektiöser ist, weil das Virus sozusagen von Rachen zu Rachen springt. Genau das hat aber auch einen Vorteil: Denn Sars-1 repliziert zwar in der tiefen Lunge, ist damit nicht so infektiös, geht aber in jedem Fall auf die Lunge, was es gefährlicher macht. Sars-2 geht seltener auf die Lunge, was allerdings dann zu den schweren Verläufen führt.
Was wir wissen: dass Sars-2 in seine Wirtszelle über den ACE-2-Rezeptor eindringt. Viele Gewebezellen haben diesen Rezeptor, auch zum Beispiel die Hoden, die, wie es heißt, auch angegriffen werden könnten. Man kann sich das tatsächlich in Einzelfällen vorstellen, aber es gibt bisher keine gesicherten Erkenntnisse. Wir haben jedenfalls in keinem unserer untersuchten Covid-19-Fälle den Erreger im Blut oder Plasma gefunden. Die Durchfälle sprechen allerdings dafür, dass der Magen-Darm-Trakt angegriffen wird.
In Italien hat man nur die sehr schwer symptomatischen Fälle getestet. Dabei hat die aktuelle Studie aus Shenzhen zum Beispiel auch herausgefunden, dass sich Kinder genauso häufig mit dem Erreger anstecken wie Erwachsene, sie entwickeln allerdings nur leichte oder gar keine Symptome. Folgt man der Studie und legt zugrunde, dass 91 Prozent Covid-19 nur mit milden oder moderaten Symptomen durchmachen, dann haben sich die Italiener zunächst nur auf die verbliebenen neun Prozent fokussiert. Hinzu kommt, dass dort auch nachträglich die Toten auf Sars-CoV-2 getestet werden. Auch in China gingen anfangs die Todeszahlen stark in die Höhe, nicht aber die Infektionszahlen, weil man sich dort ebenfalls auf die Toten konzentrierte. Jetzt ist es umgekehrt, weil in China viel mehr getestet wird. Ich gehe davon aus, dass die Durchseuchung in Italien extrem hoch ist, was man bisher aber nicht ermittelt hat.
In Deutschland wurden von Anfang an auch Patienten mit nur milden Symptomen getestet. Unser Indexpatient in Bonn etwa hatte nur einen kratzigen Hals. Ich bin mir sicher: Er wäre in Italien nie abgestrichen worden.
Die Todeszahlen werden auch in Deutschland steigen, ganz bestimmt, aber nicht um solch apokalyptisch hohen Zahlen, wie sie zum Teil in Umlauf sind. Auch muss man berücksichtigen, dass es sich bei den Sars-CoV-2-Toten in Deutschland ausschließlich um alte Menschen gehandelt hat. In Heinsberg etwa ist ein 78 Jahre alter Mann mit Vorerkrankungen an Herzversagen gestorben, und das ohne eine Lungenbeteiligung durch Sars-2. Da er infiziert war, taucht er natürlich in der Covid-19-Statistik auf. Die Frage ist aber, ob er nicht sowieso gestorben wäre, auch ohne Sars-2. In Deutschland sterben jeden Tag rund 2500 Menschen, bei bisher zwölf Toten gibt es in den vergangenen knapp drei Wochen eine Verbindung zu Sars-2. Natürlich werden noch Menschen sterben, aber ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte durchaus sein, dass wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.
Das nehmen wir als kühl analysierende Juristen so einmal zur Kenntnis…
…und stellen uns viele Fragen.