13. Dezember 2019 – es ist amtlich: In Großbritannien sind alle Wahlkreise ausgezählt. Die Tories und Boris Johnson bauen ihren Vorsprung gegenüber den anderen Parteien auf 80 Sitze aus. Insgesamt siegen die Konservativen in 365 von 650 Wahlkreisen.
Der Erdrutschsieg des Boris Johnson, dessen Partei die absolute Mehrheit im Unterhaus eroberte, hat die Spitzen in Berlin, Brüssel und Paris kalt erwischt. Jetzt erst erkennen sie:
Großbritannien wird die EU nicht unter Schmerzen, sondern mit wehenden Fahnen verlassen.
Worum in Europa noch immer herumpalavert wird nach dem Votum der britischen Wähler ist die Erkenntnis, dass jetzt
ein glasklares Votum für den Ausstieg aus der Europäischen Union
erfolgt ist. Wenn Boris Johnson im Wahlkampf zu etwas wirklich klar Stellung bezogen hatte, dann zum Versprechen, Ende Januar ohne Wenn und Aber aus der EU auszutreten und danach eine dauerhafte,
harte Ablösung von der Union
anzustreben:
- ohne Zollunion,
- ohne Angleichung der Regulierungen,
- mit einer eigenständigen Einwanderungspolitik.
Das Gerede von einem zweiten Referendum hat sich erledigt.
Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen haben ein Interesse daran, die britischen Wähler wahlweise als töricht, bösartig oder tollkühn erscheinen zu lassen. Sie wollen verhindern, dass der britische Tsunami über den Ärmelkanal den Weg nach Kontinental-Europa findet.
Die „Morning Briefings“ von Gabor Steingart kommentierten am Tag nach der Wahl gewohnt kompetent:
Sieben Dinge seien es, die man der deutschen Öffentlichkeit als Fakten wider besseres Wissen aufzuschwatzen versuche.
1.
Die Briten melden sich mit dem Brexit nicht von der Welt ab, wie vielfach behauptet wird. Sie wenden sich lediglich ab von einer Europäischen Union, in dem Harmonisierung als Tarnwort für Regulierung und Freiheitsbeschränkung missbraucht wird.
2.
Der Brexit ist nicht das Versehen des David Cameron, der unter Druck die Volksabstimmung versprach. Cameron befriedigte vielmehr die alte Tory-Sehnsucht, die nach EU-Osterweiterung und Euro-Einführung übermächtig geworden war. Bereits Nicholas Ridley, Minister der Regierung Thatcher, hatte die „ever closer union“ als deutschen Trick zur Erlangung ökonomischer Dominanz bezeichnet. So sehen das die meisten Tories.
3.
Die Briten sind – vollkommen anders als Deutschland – eine zuversichtliche Nation.
Während die deutschen Ausflüge in die Weltgeschichte als militärische und moralische Bruchlandungen endeten, treibt der Kolonialismus den Briten noch heute die Tränen der Wehmut in die Augen:
1922 beherrschten sie fast 25% der Erdoberfläche und regierten mehr als 450 Millionen Menschen. Diese Erinnerung nährt noch immer das Selbstbewusstsein einer Nation, die sich in der Welt zu Hause fühlt – ohne dafür eine EU zu benötigen.
4.
Der Brexit kam keineswegs überraschend. Der Nicht-Beitritt zur Währung des Euro und damit der Fortbestand des britischen Pfunds waren der Testlauf für den Brexit.
Die Londoner City trat den Beweis an, dass es sich auch jenseits der Eurozone überleben lässt – und wie! Seit der Euro-Einführung verdoppelte sich die Bruttowertschöpfung des britischen Finanzsektors. Allein die Börsenkapitalisierung der britischen Großbank HSBC übertrifft die von Deutscher Bank und Commerzbank zusammen um fast das Siebenfache!
5.
Großbritannien sei jetzt isoliert, heißt es oft. Aber auch das stimmt natürlich nicht.
Die tiefe Verbundenheit mit den USA, die einst als britische Kolonie gestartet waren, sichert den Briten einen Logenplatz in der Weltwirtschaft. Die britischen Konzerne, vorneweg HSBC (12,3 Milliarden Euro Jahresgewinn in 2018), British Tobacco (7,4 Milliarden Euro), Shell (21 Milliarden Euro) und British Petroleum (8,4 Milliarden Euro) sind globale Giganten, denen nur wenige deutsche Unternehmen das Wasser reichen können.
6.
Großbritannien besitzt – entgegen anderslautenden Behauptungen – keinerlei wirtschaftlich bedingte Verlustgefühle.
Derweil Deutschland vom europäischen Binnenmarkt profitiert, war den Briten dieses Glückserlebnis nicht vergönnt. Die Briten haben eine negative Handelsbilanz mit Festland-Europa. Der Abschied vom zollfreien EU-Binnenmarkt ist für sie daher absolut keine Katastrophe.
7.
Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union. Grossbritannien wird damit aber nicht zu einem isolierten Aussenseiter.
Man ist weiterhin Mitglied der Nato, sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen als ständiges Mitglied und im Commonwealth spielt das Land weiter eine wichtige Rolle. Die Europäische Union hingegen ist – anders als man in Brüssel träumt – nicht der Nabel der Welt, sondern nur deren Untermieter.
Die Briten haben der Welt nun ein Zeichen ihrer geistigen Unabhängigkeit gesendet.
Boris Johnson ist nicht der Clown, den Medien aus ihm haben machen wollen.
London wird unverändert nach dem Brexit das wichtigste Finanzzentrum und die größte Steueroase der Welt sein.
Zumindest für den Finanzplatz London bedeutet das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU einen Wachstumsschub. Das Finanzviertel der Stadt London, die weltweit bedeutendste Steueroase, wird mehr Geld denn je anziehen, insbesondere aus den verbleibenden EU-Staaten. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten ist es den EU-Stellen nicht gelungen, die Privilegien der „City of London“ oder auch „The City“ (wie das Finanzviertel genannt wird) zu beseitigen.
Nach dem Ausscheiden aus der EU verliert Brüssel erst recht jede Möglichkeit, Druck auszuüben.
Die verschiedentlich geäußerte Hoffnung, London werde seine Vormachtstellung als Finanzplatz Nummer eins verlieren, ist unrealistisch. Das große Geschäft bleibt in London und wird wachsen. Banale Alltagstransaktionen mögen verlagert werden, wobei sogar das fraglich ist, da Banken im Vereinigten Königreich durch den Brexit der EU-Regulierung entkommen und mit milderen Bestimmungen rechnen können.
Die City von London ist zwar nur ein Bezirk inmitten der britischen Hauptstadt, der nur eine Quadratmeile umfasst. Sie bildet aber eine von London unabhängige Stadt mit einer eigenen Verwaltung, der City of London Corporation, und einem eigenen Bürgermeister, dem Lord Mayor of London. Die City ist eine Grafschaft und untersteht direkt der Königin. Bei Besuchen der Monarchin findet eine würdige Empfangszeremonie statt. Diese Elemente wirken wie die Inszenierung eines mittelalterlichen Schauspiels für Touristen.
Nur: Seit dem Mittelalter unterliegt die City
- eigenen Gesetzen,
- genießt eine Reihe von Privilegien,
- regelt vor allem unabhängig vom britischen Recht die Steuer, …
…wodurch die City zur bedeutendsten Steueroase weltweit wurde. Und auf diesem, ganz und gar nicht mittelalterlichen, sondern höchst aktuellen Vorrecht, beruht die Position der City als Finanzzentrum Nr. 1 der Welt.
Die City selbst wäre trotz all ihrer Privilegien allein nicht so bedeutend, hätte sie nicht den besten Zugang zu den zahlreichen Inseln weltweit, die zu Großbritannien gehören und als Steueroasen agieren. Die Anzahl ist groß, es sind insgesamt 17 Inselgruppen, wobei die Jungferninseln und die Caymaninseln die berühmtesten sind.
Diese Plätze kennen in der Regel keine Einkommen- und keine Körperschaftsteuer. Unternehmen, die auf diesen Inseln ihren Hauptsitz errichten, zahlen ganz legal keine Gewinnsteuern.
Die Steueroasen gehörten, obwohl sie britisches Territorium sind, schon bisher entweder überhaupt nicht zur EU oder genießen als „Überseeische Länder und Hoheitsgebiete“ einen Sonderstatus, der in den EU-Verträgen verankert ist.
Aber auch als EU-Staaten, die sie nie wurden, könnten sie ihre Steuergesetze nach Belieben gestalten, da dieser Bereich autonom von den Mitgliedsländern entschieden wird.
Aus der rechtlich abgesicherten Steuerfreiheit der Steuer-Oasen resultieren nicht nur gigantische Vorteile gegenüber Betrieben, die ihren Sitz in Ländern mit regulären Steuern haben, es kommt auch zu einer Groteske:
Durch die Aktivitäten etwa der EU oder der USA gegen die Steueroasen haben sich auch die lokalen Regierungen vieler Steuer-Inseln zur Weitergabe von Informationen verpflichtet.
Wenn aber keine Gewinnsteuern erhoben werden, verlangen die Behörden auch keine Steuererklärungen und keine Bilanzen. Es gibt daher keinen Anlass für Steuerprüfungen. Somit entstehen keine Informationen, die man weitergeben könnte.
Der Mittelbedarf, den naturgemäß auch diese Länder haben, wird durch sonstige Abgaben finanziert. Dazu gehören Gebühren, die bei der Errichtung einer Firma anfallen oder jährlich für Aufenthaltsgenehmigungen zu zahlen sind.
Die EU hat bisher nur Rahmenbedingungen für die Umsatzsteuer beschlossen, aber nicht für Gewinnsteuern.
In der britischen Gewinnbesteuerung genießen ausländische Unternehmen Vorteile, die, gekoppelt mit der Möglichkeit sich auf einer britischen Steuer-Insel im „Ausland“ registrieren zu lassen, besonders attraktiv sind. Auf Drängen der EU und der OECD sollten diese Möglichkeiten gestrichen werden. Man war sogar schon bereit, einige Änderungen durchzuführen, doch wurden diese nach der Brexit-Abstimmung wieder unterlassen.
Brexit? – Finden wir gut!
Wir bleiben am Ball – es werden sich neue Türen öffnen.